Jetzt wird die Landtagswahl in Niedersachsen auch von zwei AfD-Mitgliedern angefochten. Grund: Bei der Listenaufstellung ihrer Partei sei es nicht mit rechten Dingen zugegangen. Kommen die Kläger durch, müsste neu gewählt werden. Das gab es so seit 30 Jahren nicht mehr.
Sie werden sich wohl ein wenig Zeit nehmen. Voraussichtlich „zum Ende des ersten Quartals 2023“, so André Bock (CDU), Vorsitzender des Wahlprüfungsausschusses im niedersächsischen Landtag, werde das Gremium zusammenkommen, um die Vorwürfe zu prüfen, die in diesen Tagen der AfD gemacht werden. Die Partei, so heißt es in diversen Wahlanfechtungen, die Bock vorliegen, habe bei der Aufstellung ihrer Listen für die niedersächsische Landtagswahl am 9. Oktober gegen Recht und Gesetz verstoßen.
So massiv sollen diese Verstöße nach Auffassung der Kläger sein, dass die gesamte Niedersachsen-Wahl neu angesetzt werden müsse. Insgesamt, das teilte Bock mit, lägen ihm zehn Wahlanfechtungen vor. Weitere könnten noch folgen. Die Einspruchsfrist gegen die Landtagswahl endet am 16. Dezember. Bevor sich das Parlament mit den Einwänden befasst, würden diese zunächst zur Stellungnahme an die Landeswahlleiterin weitergeleitet.
Am Ende des gesamten Verfahrens könnte dann ein Urteil des niedersächsischen Staatsgerichtshofs in Bückeburg stehen. Es ist also ein weiter Weg, den zum einen die beiden FDP-Juristen Marco Genthe, ein früherer Landtagsabgeordneter, und Alexander Grafe, zum anderen mindestens zwei AfD-Mitglieder angetreten haben.
Genthe und Grafe gründen ihre Vorwürfe gegen die AfD auf Äußerungen von deren früherem Landtagsabgeordneten Christopher Emden. Der hatte seinem Parteivorstand bereits vor der Wahl vorgeworfen, die aussichtsreichen Listenplätze für die Landtagswahl quasi verkauft und dafür eine „Kriegskasse“ angelegt zu haben. Der AfD-Landesvorstand hat diese Vorwürfe stets zurückgewiesen. Die Staatsanwaltschaft Osnabrück hat kurzzeitig aufgenommene Ermittlungen gegen den Vorstand eingestellt.
„Der Wähler und die anderen Parteien sind getäuscht worden“
Dennoch hegen sowohl die beiden FDP-Politiker als auch der Oldenburger Staatsrechtler Volker Boehme-Neßler den Verdacht,
dass die „Integrität“ des Ergebnisses der Niedersachsen-Wahl durch das Verfahren der Kandidatenaufstellung der AfD so massiv beschädigt worden sei,
dass neu gewählt werden muss.
Ähnlich argumentieren auch jene AfD-Mitglieder, die die Niedersachsen-Wahl nach Informationen von WELT ebenfalls anfechten. „Der Wähler und die anderen Parteien sind getäuscht worden. Die AfD hat sich die Teilnahme an der Landtagswahl erschlichen“, erklärt der Diplom-Jurist Steffen Siebert, selbst AfD-Mitglied und zugleich Geschäftsführer eines neu gegründeten politischen Vereins, der sich unter anderem „für Rechtsstaatlichkeit innerhalb der selbst ernannten Rechtsstaatspartei AfD“ einsetzt. Mehrere Mitglieder dieses Vereins haben in den vergangenen Monaten schon vor den Parteigerichten und staatlichen Gerichten dafür gekämpft, die AfD-Landesliste für ungültig erklären zu lassen. Die entsprechenden Unterlagen liegen WELT vor.
Anders als den FDP-Juristen geht es Sieberts Leuten nicht um möglichen Stimmenkauf bei der Aufstellung der AfD-Landesliste, sondern eher um deren formales Zustandekommen. So hätte die Listenaufstellung nach Ansicht der AfD-internen Gruppierung nicht als Delegiertenversammlung durchgeführt werden dürfen. Die Satzung gebe vielmehr eine Mitgliederversammlung vor. Zudem sei der neue niedersächsische AfD-Landesvorstand auf dem Landesparteitag am 28. Mai nicht ordnungsgemäß gewählt worden. Das Gremium sei deshalb zur Abgabe der Landesliste bei der Landeswahlleiterin gar nicht berechtigt gewesen.
Die enttäuschten AfD-Mitglieder begründen ihre Haltung damit, dass ihnen bis heute kein Protokoll vorliegt, in dem die Wahl des neuen Vorstands notiert worden wäre. Im Protokoll des Landesparteitags heißt es nur, dieser sei für fünf Stunden für einen „Eilparteitag“ unterbrochen worden. In dieser Zeit soll dann der neue Vorstand gewählt worden sein.
WELT hat dem damals gewählten Landesvorsitzenden der AfD-Niedersachsen, Frank Rinck, einen Fragenkatalog zu den Vorwürfen zugeschickt und gefragt, ob es ein gesondertes Protokoll für die Vorstandswahlen auf dem „Eilparteitag“ gibt.
Die knappe Antwort: „Die von Ihnen angefragten Veranstaltungen sind in jeder Weise formal korrekt abgelaufen. Das haben Schiedsgerichte, ordentliche Gerichte, Gutachter und schließlich die Landeswahlleiterin bestätigt. Daher erübrigt sich ein detailliertes Eingehen auf Ihre Fragen.“
Unruhe im Wahlprüfungsausschuss des Landtags
Das Landesschiedsgericht der AfD hat einen Eilantrag von Sieberts Leuten zurückgewiesen:
Die Entscheidung des Landesvorstands für eine Delegiertenversammlung sei rechtmäßig gewesen. Auch vor dem Landgericht Hannover und dem Oberlandesgericht Celle hatten sie keinen Erfolg. Die staatlichen Gerichte haben jedoch nicht in der Sache entschieden, sondern den Antrag wegen formeller Fehler als unzulässig verworfen. Es dürfte also einige Arbeit auf den 14-köpfigen Wahlprüfungsausschuss des niedersächsischen Landtags zukommen.
Dort hat schon die Anfechtungsklage der beiden FDP-Politiker eine gewisse Unruhe ausgelöst. Und das, obwohl sich zunächst nicht einmal die bei der Wahl knapp an der Fünf-Prozent-Hürde gescheiterten Liberalen offiziell hinter den Antrag stellen wollten.
Im Gegenteil. Von einer „Verzweiflungstat“ war zunächst die Rede. Inzwischen wird das von Genthe und Grafe angestoßene Verfahren bei der Niedersachsen-FDP jedoch mit einem gewissen Wohlwollen betrachtet. Es sei „richtig, dass dieser Stein ins Wasser geworfen“ worden sei, bevor die Frist für eine Wahlanfechtung verstrichen wäre.
Auch die Juristen der niedersächsischen Staatskanzlei haben damit begonnen, den Vorgang vorsorglich einmal unter die Lupe zu nehmen. Die anderen Landtagsparteien SPD, Grüne und CDU wollen die Wahlanfechtungen zumindest vorläufig ernst nehmen. Sebastian Lechner, gerade gewählter Fraktionsvorsitzender der CDU und neuer starker Mann der Niedersachsen-Union, verweist auf WELT-Anfrage zwar auf die Einstellung der staatsanwaltlichen Untreue-Ermittlungen. Dennoch sieht Lechner im Wahlprüfungsausschuss des Landtags „ein geeignetes Instrument, um zu prüfen, ob durch die Listenaufstellung der AfD die Landtagswahl nicht ordnungsgemäß gelaufen ist“.
Ähnlich äußert sich der Parlamentarische Geschäftsführer der regierenden SPD-Fraktion Wiard Siebels, der mit Verweis auf die Zuständigkeit des Wahlprüfungsausschusses „die Erfolgsaussichten dieser Anfechtung zum gegenwärtigen Zeitpunkt“ nicht einschätzen mag.
Für Volker Bajus, parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen in Niedersachsen, ist klar, dass der Landtag die gegen die Listenaufstellung der AfD erhobenen Vorwürfe „ernst nehmen“ müsse. Für Spekulationen über mögliche Konsequenzen sei es allerdings noch zu früh.
In der Geschichte der Bundesrepublik musste bisher eine Landtagswahl wegen Mängeln bei der Kandidatenaufstellung einer Partei neu angesetzt werden. 1993 hatte das Hamburgische Verfassungsgericht zur Überraschung aller Politikexperten verfügt, die Hamburger Bürgerschaft nach der Abstimmung von 1991 neu wählen zu lassen – weil der dortige CDU-Landesverband seine Parlamentskandidaten in einem intransparenten Verfahren nominiert hatte.
Link zum Original-Artikel in der Welt:
https://www.welt.de/politik/deutschland/plus242490965/Niedersachsen-Neuwahl-Ausschuss-prueft-Vorwuerfe-gegen-AfD.html